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Freud

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Am 23. September 1939, also vor 75 Jahren, starb Sigmund Freud. Er habe, so behauptete er, mit seiner Lehre starke Gefühle der Menschheit verletzt und er stellte sich in eine Reihe mit Kopernikus und Darwin. So wie Kopernikus dem Menschen eine narzisstische Kränkung zugefügt habe, indem er die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums rückte, so wie Darwin die Eitelkeit herausgefordert habe, indem er die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich nachwies, so habe er, Freud, den Stolz des Menschen auf sein Bewusstsein beleidigt, indem er zeigte, dass ein großer Teil seines Verhaltens und Erlebens unbewusster Steuerung unterliege.

Freud hatte eine mechanistische Vorstellung von der menschlichen Seele. Sein Begriff des “psychischen Apparates” zeugt davon. Dies war nicht metaphorisch gemeint. Er behalf sich mit psychologischen Begriffen wie “Verdrängung”, “Ich”, “Es”, “Überich”, System “unbewusst” etc., weil ihm der Entwicklungsstand der Neurobiologie keine präziseren, naturwissenschaftlich definierten Termine erlaubte, aber zeitlebens blieb er davon überzeugt, dass die psychischen Vorgänge letztlendlich durch das Gehirn hervorgebracht würden und dass es eines Tages möglich sein werde, seine Psychoanalyse durch neurowissenschaftlich fundierte, medikamentöse Therapien zu ersetzen.

Die psychischen Prozesse unterlagen aus seiner Sicht einem strengen Determinismus. Alle psychischen Erscheinungen, so dachte er, hätten Ursachen, die prinzipiell psychoanalytischer Erklärung zugänglich seien. Dies trifft natürlich auch auf die “psychischen Krankheiten” zu; sie haben nach Freud ihre Wurzeln in der Kindheitsgeschichte des Subjekts. In der Psychoanalyse gilt es, den Einfluss dieser frühen Geschichte auf das aktuelle Verhalten und Erleben bewusst zu machen, um so neurotisches Elend in gewöhnliches Leid umzuwandeln. Gegen Ende seines Lebens schätzte Freud die Erfolgsaussichten dieses Unterfangens allerdings eher skeptisch ein. Die Psychoanalyse, so schrieb er, können sich mit den Heilerfolgen von Lourdes nicht messen, da weniger Menschen an das Unbewusste glauben als an das Wirken der Jungfrau Maria.

Nach wie vor gibt es Psychotherapeuten, die sich auf die Lehren Freuds berufen, aber sein Einfluss auf die zeitgenössische Psychiatrie im Allgemeinen ist eher gering (Hale 1995; Stepansky 2009). Die Mainstream-Psychiatrie macht die Erbanlagen und nicht die Kindheitsgeschichte für “psychische Krankheiten” verantwortlich und sie analysiert nicht den Ödipus-Komplex, sondern, mithilfe bildgebender Verfahren, neuronale Netzwerke in den Gehirnen der Betroffenen. Zwar ist die Psychoanalyse im Besonderen und die Psychotherapie im Allgemeinen noch nicht vollständig verschwunden; aber das Hauptaugenmerk der zeitgenössischen Psychiatrie gilt eindeutig den medikamentösen Behandlungsformen.

Sein Einfluss auf das Laienverständnis der Psychologie und Psychiatrie ist aber immer noch gewaltig. Nach wie vor stellen sich viele Leute, die keinen direkten Kontakt mit diesem Bereich haben, unter einem Psychiater einen bärtigen älteren Mann vor, der am Couchende sitzt; und dies, obwohl selbst im psychotherapeutischen Bereich die meisten Ausübenden Frauen sind, die verhaltenstherapeutisch oder, zunehmend, mit der einen oder anderen esoterischen Therapieform arbeiten. Obwohl kaum jemand weiß, was mit Termini wie dem “Unbewussten”, der “Verdrängung” oder dem “Überich” tatsächlich gemeint ist, gehören diese Termini zur Alltagssprache.

Wenn auch die Forschung längst die Gleichwertigkeit aller Therapieverfahren empirisch erhärtet hat, gilt die Psychoanalyse vielen Geisteswissenschaftlern als die wahre Lehre, als Therapieform für die Elite, wohingegen die Verhaltenstherapie sowie die esoterischen Ansätze und die medikamentöse Therapie als etwas Geringerwertiges betrachtet werden, womit man die Massen abspeist, für die eine Psychoanalyse zu teuer und aufgrund mangelnder intellektueller Voraussetzungen ohnehin vertane Zeit wäre. In geisteswissenschaftlichen Theorien werden Freudsche Gesichtspunkte auch gern als Erklärungansätze für das eine oder andere soziale oder kulturelle Phänomen eingewoben – und dies trotz der Tatsache, dass sich zentrale Annahmen der psychoanalytischen Lehre im Licht der empirischen Forschung als nicht haltbar erwiesen haben.

In seinem Buch “A Final Accounting” geht Edwin Erwin der Frage nach, ob sich Freuds Thesen zum psychischen Apparat, zur Theorie der Träume, zu den Persönlichkeitsstörungen, zu den Stufen der sexuellen Entwicklung, zum Ödipus- und Kastrationskomplex, zu den Abwehrmechanismen, zur Ätiologie der Neurosen und der Versprecher und zur Paranoia wissenschaftlich bewährt hätten. Sein Fazit: Eigentlich nicht. Diese Einschätzung gelte unabhängig davon, ob man sich der experimentellen oder der nicht-experimentellen Evidenz zuwende (Erwin 1996:282).

Man mag vorbringen, dass Freud sich zwar in Details geirrt haben könne, dass aber die großen Linien, die er vorgab, nach wie vor relevant seien; auch die empirische Forschung habe beispielsweise die Existenz des Unbewussten  bestätigt. Letzteres ist zwar wahr, aber was wir über das Unbewusste wissen, widerspricht den Freudschen Annahmen grundlegend (Kihlstrom 1999).

Streng nach Freud dürfte heute wohl kaum noch ein Psychoanalytiker vorgehen und manch einer, der früher Psychoanalytiker war, hat sich heute offen oder verdeckt anderen Formen der Behandlung zugewendet. Die überwiegende Mehrheit der Psychotherapeuten weltweit hat sich ohnehin anderen Ansätzen verschrieben.  Freuds Einfluss in der Fachwelt schwindet unaufhaltsam, und dennoch ist er so lebendig wie eh und je. Das Freud-Bashing steht nach wie vor hoch im Kurs und zeugt von der Aktualität dieses Denkers. Allein, woran liegt das?

Nun ist er seit 75 Jahren tot und dies nicht nur physisch, sondern seit mindestens 30 Jahren mehr oder weniger auch fachlich; und dennoch geistert er nach wie vor als Untoter durch die Seelenlandschaften unserer Zeit. Weit davon entfernt, diese Frage schlüssig beantworten zu können, erlaube ich mir dennoch eine Spekulation: Freud hat die Dämonen säkularisert. Er hat sie in Kräfte des Unbewussten verwandelt, die mit den Methoden der Wissenschaft (so wie Freud sie verstand) analysiert und mehr schlecht als recht in Schach gehalten werden können. Auch der aufgeklärte Mensch kann auf die Dämonen nicht verzichten, aber er kann sie nur akzeptieren, wenn man sie ihm als natürliche Erscheinungen erklärt. Dieses in vielen aufgeklärten Menschen noch lebendige, dämonologische Bedürfnis hält Freud am Leben.

Die Dämonen stehen für das Rätselhafte in der Natur, sind menschheitsgeschichtlich frühe Versuche, das vom Gewohnten Abweichende zu erklären. Ob Theorien über genetische Anomalien oder neuronale Defekte jemals jene Bedürfnisse befriedigen können, denen die Vorstellung eines Freudschen Unbewussten entspricht, halte ich für fraglich. Der untote Freud wird also vermutlich noch lange nicht gepfählt und begraben.

Literatur

Erwin, E. (1996) A Final Accounting: Philosophical and Empirical Issues in Freudian Psychology. MIT

Kihlstrom, J.F. (1999). The psychological unconscious. In L.R. Pervin & O. John (Eds.), Handbook of personality, 2nd ed. (pp. 424-442). New York: Guilford

Hale, N. G. (1995). The Rise and Crisis of Psychoanalysis in the United States, 1917-1985, Oxford University Press

Stepansky, P. E. (2009). Psychoanalysis at the Margins, 2009, New York: Other Press

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